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Frankreich

Vier Bergwanderungen hinter Menton

Hoch über der Côte d'Azur

 

 

Fotografie & Text: Paul Smit

Ein subtropischer Traum: Bergwandern zwischen duftenden Blumen, ab und zu eine Handvoll Feigen, Trauben oder Beeren naschend, mit Ausblick sowohl auf die Küste als auch die Alpen.

 

Standort

Die Stadt an der Côte d'Azur, die ich am liebsten besuche, ist Menton. Auf dem breiten Sandstrand liegen mehr lokale Familien als Touristen. Und in den kurvenreichen Einkaufsstraßen shoppen keine nouveaux riches, sondern Italiener aus dem grenznahen Raum. In allem ist Italien spürbar, symbolisiert durch die Barockkirche, die das alte Zentrum überragt.

Menton ist denn auch ein geeigneter Standort für alle, die Strand- und Kultururlaub mit Wandern abwechseln wollen. Möchte man die Küste lieber ganz hinter sich lassen, kann man zunächst ein Quartier in Gorbio suchen und danach weiter nach Ste. Agnès, Frankreichs höchstgelegener village littoral, ziehen. Man kann auch Tageswanderungen und zweitägige Routen zu einer einwöchigen Wanderung kombinieren. Dann ist Menton Start und Ziel, dazwischen wird in Gorbio, Ste. Agnès, Castellar und Torri (Italien) übernachtet.

 

Tagestour 1

Gorbio - Col de la Madone de Gorbio - Cime de Galian - Mt. Agel - Gorbio (Höhenunterschied 777 m)

Gorbio, auf den Hügeln hinter Menton gelegen, ist für mich die schönste village littoral der Côte d'Azur. Und das will was heißen, denn eigentlich sind alle Städtchen pittoresk. Eze ist das bekannteste Beispiel. Bezaubernd. Aber jedes zweite Haus ist ein Souvenirladen, handelt mit Antiquitäten, serviert Kaffee oder verkauft Eis. Gorbio ist authentisch. Es besitzt dieselben Gassen und Bögen, liegt ebenfalls auf einem Hügel, aber ein Geschäft findet man hier nicht. Kein einziges! Hier spielen Kinder, wohnen Menschen. Nur vor dem mittelalterlichen Tor findet man eine Bar und ein Restaurant. Dazwischen liegt der Marktplatz mit einer zwei Meter dicken Ulme und einem Springbrunnen.

Der Duft von Blumen kommt uns entgegen, sobald wir das Städtchen verlassen. Der alte Eselspfad, der zwischen den Terrassen nach oben führt, wird von Blumen gesäumt. Weiter oben, wo die Terrassen weniger gepflegt sind, mischen sich verwilderte Feigen mit Wildpflanzen, und schließlich umgibt uns Natur pur. Jetzt, im Juni, dominiert der Ginster. Die Blüten sind viermal so groß wie die der mir bislang bekanntem Ginsterpflanzen. Auch der Duft ist overdone: Es riecht, als wären plötzlich Tausende von Honigtöpfen geöffnet worden.

Auf zwei Dritteln des Weges zur Ravin du Rank machen wir eine Pause und schauen uns um. Gorbio ist aus dem Blick verschwunden, der Schnellweg - der einzige Schandfleck - unsichtbar, Menton weg. Aus einem Tal voller Blumen schauen wir auf das azurblaue Meer herab, ohne auch nur das kleinste Zeichen menschlicher Zivilisation zu sehen. Jetzt verstehen wir, warum die Engländer vor anderthalb Jahrhunderten so lyrisch von der Côte sprachen und Villen am Fuße der Hügel bauten. Die waren damals so unberührt wie dieser Ausblick, die Subtropen in ihrer reinsten Form.

Nach dem Col de la Madone de Gorbio wechselt die Stimmung. Kahl wird es, ein Land der Disteln, denn poröser Kalkstein lässt hier jegliches Wasser verschwinden. Aber es wäre nicht die Côte, wenn nicht auch diese Disteln größer und schöner wären, himmelblau mit türkisfarbenen Blättern. Einige Stellen sind vegetationslos. Das versickernde Wasser hat Stück für Stück den Kalk gelöst, meterhohe, messerscharfe Finnen hinterlassend. Ein Musterbeispiel einer Karstlandschaft.

 

 

 

In der Ferne erhebt sich nebelumschlungen der Tafelberg Mont Agel, gekrönt von einer Stadt wie aus Tausendundeiner Nacht. Das Ensemble glänzender Kuppeln und schlanker Türme entpuppt sich von Nahem als Militärfestung, ein Grenzposten in der südöstlichen Ecke des Landes. Kurz davor taucht unser Weg herab über die Flanken des Plateaus in den Wald. Ein Wald? Man könnte ruhig „Regenwald" sagen. Die Hänge des der See am nächsten gelegenen Tausenders fangen mehr Nebel, aufsteigende Wolken und Regen als die Umgebung, und im Winter weniger kalten Wind aus den Alpen.

Wir steigen herab, bis wir auf den Fernwanderweg GR 51 stoßen, die von Marseille bis Menton über die balcons de la méditerranée verläuft. Mit Meeresblick natürlich. Keine schlechte Route zum Wanderziel Gorbio.

Tagestour 2

Gorbio - Ste. Agnès - Cime de Baudon - Col de la Madone - Gorbio (Höhenunterschied 933 m)

Über dieselbe GR 51 verlassen wir am nächsten Morgen das Städtchen. Wieder die üppigen Terrassen über Gorbio. Ste. Agnès, bietet einen erheblich raueren Anblick. Es liegt auch gut 400 m höher, zum Schutz gegen Angriffe der Sarazener auf einem Berggipfel. Genauer gesagt, hinter dem Gipfel: von der Küste aus ist nichts davon zu sehen. Dennoch war es nicht die Lage, die Meerespiraten abhielt, sondern das Dorfmädchen Anne. Haroum, ein mächtiger Sarazener, war so von ihrer Schönheit und Tapferkeit beeindruckt, dass er ihre Forderungen für eine Hochzeit erfüllte: Beendigung der Piraterie und Bekehrung zum Christentum.

Ste. Agnès ist touristischer als Gorbio, aber noch lange kein Eze. Eher die Art Künstlerort, mit einem verrückten Italiener, der eine biologische Pizzeria eröffnete.

Von der Kapelle hinter dem Dorf aus geht es hinauf Richtung Cime de Baudon. Es ist mitten am Tage und zu warm für einen solchen Anstieg. Glücklicherweise erreicht der Pfad einen Nordhang. Wald. Blumen. Schatten. Siesta! Nie zuvor konnten wir ungehindert gen Norden schauen. Wir sind erstaunt über die Höhe der Berge dort. Es sind die Dreitausender von Mercantour, übergehend in die Argentera, gleich hinter der italienischen Grenze. Vom Cime de Baudon, unserem höchsten Punkt, ist die Aussicht noch kompletter. Jetzt fällt auch die Küste darunter.

Der Südhang ist warm, trocken und baumlos. Glücklicherweise steht die Sonne bereits niedrig. Eine gute Zeit, am Fuße des Baudon, wo wir eine geeignete Übernachtungsstelle mit ein paar Bäumen finden, das Zelt aufzuschlagen…, wenn wir es denn dabei hätten.

Den Abend in Gorbio verbringen zu müssen, erweist sich jedoch nicht als Strafe. Wir landen auf der Terrasse am Ulmenplatz und schauen der Dorfjugend zu, während der Vollmond langsam über den alten Häusern aufsteigt. Das Zentrum des Ganzen ist der Springbrunnen. Doch für die Jungen bildet eine kokette Teenager-BB den Mittelpunkt. Nicht, dass sie ihnen die geringste Aufmerksamkeit schenkt, die gilt den Kindern, die, überall dazwischen rennend, ein wildes Spiel mit ihr spielen. Der Wein verbreitet wohlige Müdigkeit im Körper, das Vielgängemenü Trägheit. Als wir endlich im Zelt auf dem Campingplatz liegen und der Duft des Ginsters bis in den Schlafsack dringt, fühle ich mich rundum glücklich.

Tagestour 3

Ste. Agnès - Col de l'Olive - les Cabrolles - Ste. Agnès (Höhenunterschied 450 m)

Mitte August kehre ich in die Mentonnais zurück. Diesmal wähle ich eine Kulturlandschaft, und nicht nur wegen des Kontrasts zu den Naturwanderungen. Von Mitte August bis tief in den September ist nämlich Erntezeit. Oder besser gesagt: es müsste Erntezeit sein. Aber viel Obst wird nicht mehr gepflückt. Kam kein Wanderer vorbei, dann wartete das traurige Schicksal des Verrottens und Verderbs.

Für die Pfirsiche ist es bereits zu spät. Zuerst riechen wir sie, ein Duft so schwer, dass man ein Gemälde daran aufhängen könnte. Dann sehen wir das überreife Obst auf dem Weg liegen. Es kostet Mühe zu verhindern, dass wir den Rest der Tour die Bienen hinter uns haben wegen des Pfirsigbreis an den Schuhen.

Für die Feigen, niedriger am Hang, ist es noch etwas früh. Doch die ersten sind reif; man kann sie mit den Fingern aufbrechen. Als ich zum ersten Mal diesen sinnlichen Genuss erlebte, verstand ich, warum Adam und Eva von Gott mit Feigenblättern bedeckt des Paradieses verwiesen wurden. Sie hatten bestimmt nicht nur vom Baum der Erkenntnis genascht. Sie hatten sich an den überreifen Feigen gelabt, und dann war die Sache aus dem Ruder gelaufen.

 

 

Wir sehen auch Weintrauben. Die Trauben hängen über einen Zaun. Das bedeutet Schwierigkeiten! Können wir dies noch als noble Tat sehen, fragen wir uns, während wir eine Handvoll grüner Früchte verzehren. Retten wir Frankreichs edelste Frucht vor dem Verderb oder stehlen wir aus jemands Garten? Wir betrachten die Villa etwas genauer. Ein Prachtexemplar, umgeben von alten Weinranken. Der leichte Zustand des Verfalls ist zu perfekt, um nicht genau so bezweckt zu sein, und das Auto, das wir hinter den Bäumen sehen, ist kein Deux Chevaux, sondern ein Jaguar. Der Eigentümer, so schlussfolgern wir, wird ohne "unsere" Trauben nicht verhungern.

Zweitägige Tour

Erster Tag: Castellar - Col du Berceau - Grenzpass zu Italien - Chiesa Cimone - Villatella - Torri Superiore (Aufstieg: 676, Abstieg: 967 m). Zweiter Tag: Le Grand Mont (Grenzübergang) - Colla Bassa - Castellar (Aufstieg: 1170 m, Abstieg: 879 m, einschl. Ersteigung des Grand Mont (1378 m) 129 m Höhenunterschied extra)

Der Herbst dauert lange in Mentonnais und ist angenehm mild. Zwei Wochen vor Weihnachten mache ich die letzte Wanderung, die schönste von allen. Das kommt zum Teil durch die Jahreszeit. Denn im italienischen Torri, dem Übernachtungsort dieser zweitägigen Tour, und mit achtzig Metern über dem Meeresspiegel auch der niedrigste Punkt, sind die Zitronen und Orangen reif, werden die Oliven geerntet und beginnen die ersten Mimosen zu blühen.

Es ist auch die schwerste Tour, denn neben dem niedrigsten Punkt wird auch der höchste Punkt aller Wanderungen erreicht: Le Grand Mont, Grammondo für die Italiener. Auf dem Hinweg komme ich jedoch noch nicht so hoch. Das hätte auch keinen Sinn: ich wandere im Nebel. Der fehlende Ausblick auf die Grenze wird kompensiert durch das, was sich entfaltet, als ich, den Schildern "Torri" und roten Farbklecksen folgend, aus den Wolken herabsteige: eine steile, grüne Berglandschaft, terrassiert soweit das Auge reicht, mit einer leuchtendweißen Kapelle in ihrer Mitte. Landwirtschaft wird hier bis in viel größere Höhe betrieben als auf der französischen Seite. Ich bin von einem der reichsten Teile Frankreichs in die ärmste Ecke Norditaliens gekommen.

Es wird nicht überraschen, dass der Tourismus hier noch in den Kinderschuhen steht. Die allerersten Wege werden markiert. Der nach Torri ist einer davon, mit neuen Schildern und frischen Farbklecksen. Auf der Karte findet man viel mehr Wege. Ein Wanderparadies, so scheint es. Nicht gekennzeichnete Routen enden jedoch konsequent in einem Dschungel von Beeren und dornigen Lianen, die es wie Drakula auf den Hals abgesehen haben.

Sogar die brandneue Route nach Torri ist gewöhnungsbedürftig für einen Wanderer, der gerade aus dem Land der GRs kommt. So zeigt das Schild bei der weißen Kapelle in die falsche Richtung, und die vertrauten rot-weißen Streifen, die dort die roten Kleckse ablösen, sind an bizarren Stellen angebracht. Hinweiszeichen stehen vorzugsweise hinter einer T-Kreuzung, eine Abzweigung erkennt man am plötzlichen Fehlen von Hinweisen, und bei einer Kreuzung ist die Wahl einfach: in drei Richtungen findet man keine Hinweise, aber in der vierten.

Das Puzzle ist eingebettet in eine atemberaubend schöne Landschaft, wo man die letzten Wehen des Mittelalters und zugleich die Ankunft der Neuzeit erlebt. Eine Viertelstunde lang begleite ich einen alten Mann mit Maulesel, die Satteltaschen voller Oliven. An anderen Stellen liegen große Netze unter Olivenbäumen. Die reifen Oliven fallen von selbst hinein, und wenn die "Erntezeit" vorbei ist, kommen die Bauern in Pickup-Dreiradwagen oder Fiat Pandas in 4x4 Ausführung die Netze leeren. Diese Schöpfungen eines rationaleren Zeitalters beeinträchtigen die Olivenhaine jedoch keineswegs. Die Gaze sieht aus wie Frühnebel zwischen den Stämmen. Die Dörfer entlang des Weges wetteifern in pittoreskem Aussehen. Man kann sich kaum satt sehen, doch aufgepasst - die Augen werden auch anderweitig gebraucht. Denn gerade hier erheben die Streckenzeichen das Versteckspiel zu einer wahren Kunst.

Nach dem letzten Dorf verschwindet langsam alle Üppigkeit aus der Landschaft, und der Weg klebt in einem kühlen Wald an einer steilen Felswand. Dann, im allerletzten Moment, kommt Torri in Sicht. Saftige Gemüsegärten flankieren einen Fluss, und zurück sind die grünen terrassierten Berge, wie in einem indonesischen Traum. Ich esse eine reife Zitrone vom Baum und staune über den erfrischenden, beinah süßen Geschmack.

Froh über den gelungenen Wandertag, komme ich in das Dorf, das diesmal nicht auf einem Hügel liegt. Eine Perle, für einige vielleicht etwas zu verfallen, um noch pittoresk zu sein. Gassen so schmal wie Rinnen, Tunnel mit ab und zu mehr als fünfzig Metern Länge - die Laternen brennen Tag und Nacht - und überall Außentreppen zu höher gelegenen Eingängen. Was für eine Ankunft!

Die echte Weihnachtsüberraschung ist jedoch meine Unterkunft für die Nacht: Torri Superiore, das etwas höher gelegene "Außenviertel". Das Gehöft besteht im Grunde aus einer einzigen Konstruktion, scheinbar eine Ansammlung von teilweise 5 Etagen hohen Türmen ("Torri"), ein Irrgarten, den man nicht an einem Tag erforscht. Torri Superiore ist ein Öko-Dorf, und die Einwohner sind eine Lebensgemeinschaft. In acht Jahren haben sie das Dorf zu Privatwohnungen mit einem Gemeinschaftsteil restauriert. Im Letztgenannten sind auch Besucher willkommen. Übernachtung, Frühstück und eine warme Öko-Mahlzeit kosten zusammen nur 25 Euro. Man kann auch campen, in der Nähe eines Strands am grünen Fluss.

Der Abend verläuft gemütlich: die Gruppe bastelt Weihnachtskarten. Weil ich eine recht gute Handschrift habe, darf ich, nach einem Crashkurs Italienisch, die Weihnachtswünsche darauf schreiben.

Ich bleibe einen Tag länger, helfe bei der Olivenernte und erkunde nicht gekennzeichnete Wege, die, wie gesagt, konsequent in einer Sackgasse enden, aber dennoch überraschend schön sein können. Nachmittags führt eine der Bewohnerinnen mich durch kleine Gänge zu einem perfekt ausgestatteten Hightech-Büro. Es zeigt sich, dass sich auf Initiativen der weltweit ältesten Öko-Gemeinschaften, Findhorn in Schottland und Auroville in Indien, hin immer mehr Öko-Dörfer zu einem globalen Netzwerk zusammengeschlossen haben. Die Ausweitung dieses Netzwerks ging mit der Verbreitung des Internet zusammen, ohne das es nicht überleben könnte. Torri Superiore, ein mittelalterlicher Flecken am Ende der Welt, erweist sich zu meiner großen Überraschung als organisatorische Zentrale der Netzwerkregion Europa/Afrika.

Am nächsten Tag ist es so warm, dass ich den endlosen Anstieg zum Grammondo, und damit den Rückweg nach Frankreich, mit entblößtem Oberkörper bewältige. In La Douce bin ich plötzlich über den Wolken, obwohl Italien wolkenfrei ist. Berggipfel und Nadelwälder ragen wie Inseln aus den wogenden Watteschwaden, klar wie in einem chinesischen Gemälde.

 

 

Nordwärts bohren sich die verschneiten Dreitausender von Mercantour in den Himmel. Die letzten Kilometer gehe ich in der Dämmerung, inzwischen wieder sicher unter den Wolken hervorgekommen, nach Castellar. Auch dies ist ein altes Dorf, aber deutlich reicher als die Orte, die ich in Italien gesehen habe. Es hat sich in Weihnachtsschmuck gehüllt und badet im Lichte tausender Lampen, hoch über Menton und der Côte d'Azur.

 

  

Übersetzung aus dem Niederländischen: Britta Smit

 

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Zu jeder Reportage gehören umfassende praktische Informationen. Beispiel

 


Diese Reportage wurde in OP PAD, dem führenden niederländischen Outdoor-Magazin, veröffentlicht.


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